Samstag, November 27, 2004
Tach, Herr Marquardt
Ich weiß gar nicht, ob Sie noch leben. Falls aber doch, will ich mich höflichkeitshalber kurz vorstellen, ich bin der Mensch, der 1989 ihren Gedichtband "Standbein Spielbein" käuflich erworben hat. Ich weiß nun nicht, ob das Büchlein so der finanzielle Bringer war, vor allem, weil ich es in den letzten Jahren zu sehr vielen Gelegenheiten gerne nachgekauft und verschenkt hätte - was unmöglich war, da kein Buchladen es kannte. Aber ich möchte Ihnen doch sagen, daß es immer wieder neue Fans findet, ob in meiner alten WG in Heidelberg oder hier, weil es sich einfach unglaublich gut dazu eignet, spät abends, wenn die zweite Flasche Wein halb geleert ist, hervorgezogen und gegenseitig verlesen zu werden.
Und da ich, Herr Marquardt, anscheinend inzwischen in dem Alter und der Verfassung bin, in dem ich Ihre Gedichte nicht mehr nur so herrlich finde, daß ich sie einfach auswendig lernen muß, sondern mich auch immer mehr in ihnen wiederfinde, möchte ich nun gerne eines davon in den digitalen Äther schmeißen, ohne Rücksicht auf Copyright oder so unlyrischen Dreck. Das hier ist jedenfalls das Gedicht, das mit tatsächlich gerade so richtig aus der Seele spricht (auch wenn ich nicht rauche):TAGESLAUFvon Jens Scholz direct linkMüde sich am Morgen
Heben meine Lider,
Senken ob der Sorgen
Dieses Tags sich wieder.
Kopf versucht Gedanken
Wollen nicht gelingen
Lassen sich nicht fassen
Lassen sich nicht zwingen
Wasch mich nicht kämm mich nicht
Sprüh mir nur die Achseln
Zitternd nach dem Toback sucht
Klamme Hand mit Fingern
Mach mir einen Stullen
schmeckt nicht gut schmeckt nicht gut
kau und malm - so mühesam
schmeckt nicht gut
Kommt der Briefetrager
Morgens halber elf
bringt mir einen Brief
Reisz es auf und les
Ist von meiner Bank
Ist ein Mahnebrief
Ist ein Drohebrief
Werf es in den Mülltz
Geht das Telefon
Geht es greszlich laut
Geht es greszlich schrilltz
Nimm es nimmer ap
Geht ein Klingen trausz
Steht dort trausz ein Freunt
Lasz ihn nimmer ein
Ist nit mehr mein Freunt
Schreib ich einen Brîf
Schreib ich sieben Wort
Schreib ich acht nit mehr
Schreib ich keinen Brîf
kommt der nacht heran
tu nit zahnenputz
tu nit zeitung lên
tu nit fernenseh
hör nit radio nit
hap kei buch
geh schlafAxel Maria Marquardt
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