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Donnerstag, Juni 07, 2007

Wir sind so verdammt abgebrüht
1980 war ich in der sechsten Klasse. Wir wohnten in der Nähe von Alzenau, das ist nicht weit von Kahl, wo ein Atomkraftwerk steht und unsere Klasse hatte für eine Projektarbeit zum Thema Atomkraft etwa vier Wochen Zeit bekommen. Daher zogen wir zu viert durch die umliegenden Dörfer und befragten mit einem Kassettenrekorder bewaffnet irgendwelche Leute auf der Straße. Die Frage war naiv und natürlich würde man sie eigentlich anders stellen müssen: "Sind sie für oder gegen Atomkraft?". Ich habe ein paar Einträge in meinen alten Tagebüchern gefunden. Ich habe damals in sehr kurzen Sätzen geschrieben, fast Telegrammartig, aber sie zeigen mir, dass wir dieses Projekt und unseren Anteil daran sehr Ernst genommen haben. Auch naiv war die Vorstellung, guter Journalismus sei es, so genau wie möglich zu sein, was dazu führte, dass wir akribisch an die achtzig Seiten Gespräche vom Band abtippten - inklusive aller "Äh'" und "öhöm's". Damals schrieb ich auf, dass ich "keine Angst davor habe, dass da in den nächsten Jahren was passiert, aber wenn es hier irgendwann richtig viele Atomkraftwerke gibt, will ich lieber nicht mehr in Deutschland sein". Ich erinnere mich daran, wie unverständlich es für mich gewesen ist, dass die Erwachsenen sich solche Dinger ausdenken und hinstellen konnten. Eine der Schauboxen erklärte, wie ein Supergau funktionieren könnte. Und da stand, dass es in den USA schon fast einen gegeben hatte, im Mailer von Three Miles Island.

Am 26. April 1986 gab es ihn dann wirklich, denn es explodierte ein Reaktor in Chernobyl.

1986 wohnten wir in Pforzheim und ich war in der zehnten Klasse. Meine Tagebucheinträge von damals waren das typische Gejammer pubertärer, unsportlicher und zu kleiner Jungs mit Brille. Und dazwischen ein paar belustigte Einträge darüber, wie bescheuert das Geschreibsel ist, weil es sich ja anhört wie pubertäres Gejammer. Ich habe damals immer mal wieder vergessen, ein Datum aufzuschreiben, aber es war wohl Anfang Mai. Montag wahrscheinlich, denn ich schrieb darüber, dass, so langweilig das Wochenende gewesen ist, es heute in der Schule überhaupt nicht langweilig war, da es nur ein Thema gab: Tschernobyl (warum man das wohl heute anders schreibt?). Ich schrieb "Eigentlich wäre es mir lieber, wenn es langweilig geblieben wäre. Wenn Herr B. mich aus Latein geworfen oder Herr S. mir meine verhauene Mathearbeit zurückgegeben hätte. Jetzt kommt langsam heraus, was die Russen da eigentlich gemacht haben. Aber was soll denn der Scheiß? Wir haben weiß der Geier wie viele Atomkraftwerke hier rumstehen, glauben die wirklich, das kann hier nicht passieren?" Damals demonstrierten viele Schüler, wir hörten Weltuntergangsmusik von Pink Floyd und U2 sangen genau das was wir dachten. Wir schauten uns jede Nachrichtensendung an, um am nächsten Tag wieder zu diskutieren und wir waren sauer darüber, festzustellen, wie verflucht ignorant, wie ungeheuer bigott, wie verlogen, wie geld- und machtgeil diese Erwachsenen sind, die sich einen Scheißdreck um unsere Zukunft zu scheren schienen.

Heute blogge ich und schreibe gerne mal ironische Essays und zynische Bemerkungen zur Weltpolitik. Ich lese darüber, wie naiv und albern man Gutmenschen wie Bono und Herbert Grönemeyer findet und wie man sich süffisant darüber belustigt, wenn jemand die Welt verbessern will. Man überbietet sich mit Abgebrühtheit und Coolness. Niemand kann es uns Recht machen: Ist man unbekannt, braucht man ja nur drauf warten, dass er scheitert, ist er bekannt, kann man die Nase rümpfen über den satten Millionär, der uns die Welt erklären will. Wo wir doch alles besser wissen. Man steht über all diesen Dingen wie Idealen, Utopien und Solidarität, man ergeht sich in Abgesängen an das so genannte Gute im Menschen, wo auch immer das mal gewesen sein soll, denn jeder ist doch korrupt und käuflich und wenn nicht, dann nur, weil man es einfach noch nicht herausgefunden hat.

Wollen wir so sein? Postmodern und immer auf der sicheren Metaebene, von der aus man schon vorher weiß, dass man ohnehin nichts ändern kann? Ist das so wirklich die Lösung? Sich einfach dadurch aus der Verantwortung zu stehlen, in dem man die schon längst vollzogene Resignation und das klein Beigeben mit angeberischem Besserwissen übertüncht? Sind das die Spießer, denen wir uns intellektuell überlegen fühlen oder ist nicht vielmehr das spießig sein von heute, wenn wir dumm und zynisch über alles Lachen, was zu ändern man in Wirklichkeit zu bequem ist?

Wir sind so verdammt abgebrüht. Und wenn unsere Kinder uns Schaukästen hinstellen und erklären, was vielleicht in fünf oder sechs Jahren passieren könnte und wenn unsere Kinder uns Scheiße finden, weil genau das passiert ist und wir immer noch nicht unsere Ärsche hochbekommen, dann sollten wir vielleicht mal zuhören anstatt sie für naiv oder pubertär zu erklären, nur um uns wieder selbst so großartig und abgebrüht zu fühlen.

Denn in Wirklichkeit sind wir nicht abgebrüht.

Wir sind so verdammt feige.

(erstmals erschienen vor knapp einem Jahr bei mindestenshaltbar. Irgendwie grade passend, finde ich...)

Labels:

von Jens Scholz   direct link     
 

Kommentare:

"Gutmensch" ist ja auch ein Schimpfwort heutzutage...

Peter
 
wenn mich jemand so nennt, freu ich mich immer...
 
Ich mich auch :-)

Peter
 
danke. guter text.
 
"Labels: Laberflash"

q.e.d.
 
...deshalb kam mir der Text so seltsam bekannt vor, ne Konserve! :-P

Aber U2 und Weltuntergangsmusik? Mr. Hewson ist ja eher für seine Welterrettungsmissionen bekannt (und ja liebe Kinder, dass macht er nicht heuer erst zu irgendwelchen G8s, der war schon immer so drauf, sellemols in den 80ern).
Weltuntergang waren, gerade zum Zeitpunkt Tschernobyls (ich verwende lieber die deutsche Schreibweise) doch eher zb die Sisters of Mercy.
 
die weltuntergangsmusik bezog sich auch eher auf pink floyd.
 
Das mit dem "die Umwelt retten" und so ist auch so eine Sache für sich. Ich kann mich noch gut erinnern, wie mein Vater sich im Naturschutz für den Odenwald engagiert hat (tut er ja auch heute noch); u.a. als es darum ging, die sog. "Odenwaldautobahn" zu verhindern (sie hätte den eher verschnarchten O-Wald der Länge nach von N nach S durchschnitten). Auch wir hatten brav unseren "Nein zur..." auf dem Auto, etc.

Heute könnte ich diese AB gut gebrauchen, dann wär ich schneller bei der Arbeit, Scheiß Ökos! :D



...Ironie! Der letzte Absatz war Ironie! (manche bemerken das ja nicht :)
 
gibt's den text schon als klingelton?
 
Klar. Hier
 
Klasse!
 
Ich fand den Text schon in mindestens haltbar genial, aber jetzt wirkt er jetzt im Angesicht des G8 irgendwie noch besser. Parallelen zu den 80ern und Tschnernobyl zu ziehen ist sehr interessant.

"Vom Band abtippen" nennt man übrigens "transkribieren". :)
 
da ich während meines studiums massen an gesprochenen texten mit aramäischen dialekten transkribiert habe, weiß ich das durchaus.
allerdings hab ich den text ja nicht für philologen geschrieben. ;-)
 
Hervorragender Text, spricht mir aus der Seele. Vielen Dank!
 
Ich hab keine Erinnerung an Tschernobyl.

Zumindest kann ich mich nicht bewusst an ein Spielplatz- oder Sandkastenverbot erinnern.
 
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