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Mittwoch, März 31, 2010

Von Macht und Kontrollverlust
Robin Meyer-Lucht schreibt in einem Artikel über die Hintergründe für die immer wieder auftauchenden Forderungen nach Netzsperren folgende Sätze:
In der Debatte um Netzsperren geht es letztlich maßgeblich auch um einen symbolischen Akt gegen die Kränkung staatlicher Autorität im Internet. Es geht um den Unmut eines überforderten Politikbetriebs, dessen sanktionierenden und ordnenden Mechanismen aus einer anderen Zeit stammen und die im Netz entwertet scheinen, weil sie hier nicht mehr greifen.
Daraufhin erklärt er, daß die Motivation einer Führungselite, die es gewohnt ist ihre Macht durch Geheimhaltung, Seilschaften und medialer Steuerung der Öffentlichkeit zu erhalten und zu vergrößern eine so große und für den Systemerhalt unbedingte ist, daß die Dystopie - also ein reguliertes Internet mit einer Art Schengen-Grenzgebung - nur eine Frage der Zeit ist und sich
Durch sie ein Drinnen und Draußen manifestiert. Es läst sich ein Territorium des wohl geordneten "trusted internet" im Inneren von einem dubiosen Außen-Internet abgrenzen.
Das erscheint zunächst realistisch und man ist direkt versucht, sich dieser pessimistischen Ansicht anzuschließen. Allerdings möchte ich ein paar Dinge zu bedenken geben:

1. Es ist wesentlich schwerer, bereits vorhandene und etablierte Freiheiten zu beschneiden - und im Internet ist das ungleich schwerer. Die probate Taktik, Freiheiten scheibchenweise einzuschränken, funktioniert vielleicht an Flughäfen und anderen Stellen, an denen man ziemlich undurchdringliche, weil solide Barrieren aufstellen kann, aber im Internet sehe ich - zumindest in absehbarer Zeit- keine Chance auf eine Übertragungsmöglichkeit dieses Prinzips: Jede Sperre und jeder Kontrollmechanismus wird in wenigen Stunden umgehbar sein - warum das so ist, kann jeder Nerd erklären, den man nach dem Stichwort "OSI 7-Schichtenmodell" fragt. Sieht man sich an, mit welchen immensen Aufwänden in China oder im Iran agiert wird um die Kontrolle über die Kommunikation der Bürger zu behalten (und es selbst damit nicht schafft) können wir uns sicher sein, hier auf jeden Fall immer genug Zeit und Platz zu haben, um gegen entsprechende Bestrebungen auf allen möglichen Ebenen anzugehen.

2. Die Macht der Transparenz: Intransparente Prozesse, unterschlagene Fakten, geheime Pläne und Absprachen die einmal in die Öffentlichkeit getragen wurden lassen sich nicht im Nachinein wieder einfangen. Das hat mit dem von Meyer-Lucht erwähnten "Drinnen" und Draußen" zu tun, das es im Internet bisher nicht gibt.
Es gibt dieser Tage eine interessante Koinzidenz, denn ein weiteres Thema hat mit diesem "Drinnen" und "Draußen" zu tun und damit, daß sobald einmal der Damm gebrochen ist, jahrzehntelang geheimgehaltene Informationen in die Öffentlichkeit gespült werden. Ich spreche natürlich von den Vorwürfen gegen Kirchen, Missbrauchsfälle systematisch vertuscht zu haben. Als das vor einigen Monaten losging waren die ersten offiziellen Reaktionen, das seien Einzelfälle. Die Berichte und Menschen, die sich sogar nach Jahrzehnten getraut haben haben, sich auch zu äußern, haben sich dann aber exponentiell gehäuft. Denn was Transparenz tut ist Mut machen. Die Stärke der Transparenz ist es, ab einem bestimmten Moment jeden Gegendruck dazu zu nutzen, ihre eigene Kraft zu verstärken. Das ist, wovor die "Autoritäten" Angst haben. Es geht nicht nur um eine Kränkung, wie Meyer-Lucht vermutet, sondern um sehr viel mehr. Aber es geht auch um mehr als das Internet. Das ist lediglich ein Katalysator von mehreren. Das Beispiel des von Autoritäten geschützten Missbrauchs ist ein geradezu klassisches - hier geht es beileibe nicht um ein Problem von Kirchen sondern eben generell um das "Drinnen" und "Draußen" Problem, das Aufrecht erhalten eines Systems um jeden Preis. Egal ob konfessionell, staatlich oder progressiv:

"1998 haben die älteren Kollegen eher die Institution als die Opfer geschützt" (...) Die Schule reagierte "intern", sagt sie. "Intern" und "extern" sind die meistgebrauchten Worte in dieser Sache. Bis heute teilen Lehrer und Schüler die Welt in drinnen und draußen, als seien das zwei voneinander getrennte Bereiche der Moral.
Und die Wahrheit ist genau diese: Es handelt sich um zwei absichtlich getrennt gehaltene Bereiche. Und der eine ist das geheime, intransparente "Drinnen", das die Macht erhält und die Privilegien der Mächtigen schützt - je besser das System funktioniert, desto unmoralischere Privilegien sind darin möglich, was zeigt, daß die Kirchen ein sehr, sehr gut funktionierendes System hatten. Das Mittel der Wahl, um das System zu schützen, ist/war Druck und Gewalt. Und das Mittel gegen Unterdrückung und Gewalt ist Transparenz. Warum haben Missbrauchsopfer Vereine wie Mogis gegründet, um gegen die Netzsperren zu kämpfen? Weil sie eines genau wissen: Transparenz verhindert Missbrauch. Vertrauen in Machtstrukturen nicht. Geheimhaltung nicht. Machtstrukturen und Geheimhaltung haben Missbrauch erst ermöglicht.

Worauf ich hinaus will ist eine Gegenthese zur Dystopie: Ich sage, es ist nicht möglich, das aufzuhalten, was das Internet bewirkt hat, bewirkt und noch bewirken wird. Die Chance, daß durch Initiativen wie ACTA oder Finten wie von Censilia ein "Kindernet" entstehen könnte, ist doch sehr gering. Jedenfalls solange wir informieren, vernetzt dagegen vorgehen, kreativ sind und die Möglichkeiten nutzen, die uns das Netz und die Transparenz die es ermöglicht, bietet. Selbst wenn Gesetze verabschiedet werden heißt das noch lange nicht, daß sie angewendet werden: Das haben wir bewiesen.
Welchen Weg das Internet nimmt, liegt weit mehr in unserer Hand als in der von Politikern. Das zu Begreifen fällt Menschen schwer, die in Zeiten aufgewachsen sind, in denen alle öffentliche Kommunikation dadurch, daß die Mittel zur Veröffentlichung von Informationen nur indirekt zugänglich waren, gesteuert und kontrolliert werden konnte und das Streben nach Macht immer ein Streben nach der Kontrolle der Reichweite war.
Ich mache keine Utopie auf, aber einen educated guess, der meiner Meinung nach realistischer ist, als es die optimistischen "Das Internet macht alle Menschen frei, gleich und glücklich"-Ideale sind oder die pessimistischen, sich von der Datentransparenz in eine Öffentlichkeitsdiktatur getrieben fühlenden Dauermahner:
Das Internet wird Alltag. Es wird Informationen besser, schneller, freier und unabhängiger machen. Es wird Transparenz erzeugen, die den Aufbau und die Aufrechterhaltung repressiver Machtstrukturen verhindern können. Es wir aber auch Unsicherheiten erzeugen, denn Strukturen - auch hierarchische - haben auch einen Sinn. Es wird Beliebigkeit erzeugen: Wenn es 10000 unterschiedliche Richtungen gibt, gibt es am Ende nur noch Meinungen aber keine Bewegung. Man wird Wege finden müssen, sich auf andere Weise auf ein gemeinsames Ziel zu einigen und das dann auch durchzuhalten.
Es wird verschiedene Ebenen der vernetzten Kommunikation geben. Es wird auch im Internet "offizielle" Kanäle geben, die den Mainstream abbilden werden. Dieser neue Mainstream wird aber keine Vorgabe von Politik oder Wirtschaft oder einer Bildzeitung sein, egal wie sehr sich diese Stellen anstrengen werden (und das werden sie!). Darunter wird es viele parallele, stark oder lose vernetzte, alternative Netz-Kulturen geben. Und darunter auch einige verborgene und illegale. Aber diese gesamte Medienstruktur wird nicht auf Regulierung hören. Es wird nicht gelingen, den Menschen zu sagen "Das ist gut!" und "Das ist böse!". Wir haben gelernt, daß eine der besonderen und eigenen Eigenschaften des Internets ist, daß jeder darin selbst entscheiden kann, was gut ist und was nicht.

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von Jens Scholz   direct link      2 Kommentare
 
.. jens scholz ..

personal news in undefinierter dringlichkeit, wichtigkeit oder thematik .. ein subjektives log als experiment, wie lange dinge, die wichtig erscheinen, es in wirklichkeit bleiben ..


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